Manche lieben sie, manche hassen sie: Waffen. Besonders in der Schweiz. Das zeigt auch die Debatte um das anstehende Referendum. Doch: Was sehen die Menschen in Gewehr und Pistole? Das Waffenland Schweiz erzählt. (In Zusammenarbeit mit Michael Schilliger, Haluka Maier-Borst und Andreas Babst)
Roger Bobillier, 49, Polizist: «Schiessen, das gehört für mich zur Schweiz wie Fondue und Schweizerkreuz. Wie Raclette, Üetliberg und Säntis. Am Samstagmorgen, die Schützenhäuser, von denen man den Knall hört – wenn das fehlen würde, dann wäre das nicht mehr meine Schweiz.»
Nils M.*, 50, Angehöriger eines Suizidopfers: «Mein Vater hat sich das Leben genommen. Er hat sich erschossen, mit einem Karabiner, einem Geschenk seines Onkels. Die Polizei riet mir davon ab, ihn noch einmal zu sehen. Später erzählte man mir, oberhalb seines Kinns sei nichts mehr da gewesen. Der Tatort war die Küche, sie wurde danach renoviert. Es roch noch immer nach Blut, als ich das Haus zum ersten Mal wieder betrat. Die Tatwaffe wurde uns bereits einige Tage später von der Polizei wieder übergeben.»
Andrea Frauchiger, 31, Waffen-Youtuber: «Was heisst denn Waffennarr? Ich finde Waffen cool, und wenn das einem Waffennarr entspricht, bin ich gerne ein Waffennarr. Aber ich kenne das Gesetz wahrscheinlich viel besser als alle, die dieses Wort in den Mund nehmen. Ich kenne die Geschichte meiner Waffen, ich kenne die Technik. Wenn so einer als Waffennarr gilt, dann ist es halt so.»
In der Schweiz gibt es zwischen zwei- und dreieinhalb Millionen Schusswaffen, je nach Schätzung. Die Schweiz ist ein Waffenland. Viele Menschen hierzulande haben eine Beziehung zu Waffen, eine gute oder eine schlechte. Sie sind Schützen, Polizisten, Waffenhändler und Sammler. Aber auch Opfer von Schusswaffen, Angehörige von Menschen, die Suizid begangen haben, und Frauen, die von ihrem Partner bedroht wurden. Hier erzählen sie.
Eine Schützenstube im Aargau, Samstagmorgen. Unten ein Schiessstand, oben die Stube, an den Wänden hängen Fahnen und über den Fenstern Glasmalereien mit Sonnenblumen. An einem Holztisch sitzen Heinz Berger, 60, Schütze, neben ihm seine Tochter, Anna Berger, 32, Schützin. Sie haben gerade drei Stunden lang ein Schiesstraining absolviert.
Heinz Berger, Vater und Schütze: «Ich habe lange nur sporadisch geschossen. Aber als der Verein hier ein Plauschschiessen veranstaltete, da ging ich hin und dachte: Das ist doch eine nette Clique. Ich bin zuerst der Schützengesellschaft beigetreten und dann noch dem Pistolenschützenverein. Und ja, das Schiessen hat mir auch geholfen, wenn es auf der Arbeit mal nicht so lief.»
Anna Berger, Tochter und Schützin: «Es ist ein Familiending. Immer am Mittwochabend, das Pistolenschiessen. Ich komme immer direkt von der Arbeit.»
Heinz Berger: «Meine Frau und ich fahren meistens zusammen ins Training. Sie ist übrigens die bessere Pistolenschützin. Wir schiessen dann sicher und konzentriert im Training. Und anschliessend setzen wir uns in der Stube noch zu den anderen, essen und reden. Wenn meine Frau und Anna im Training sind, dann gibt es aber schon vorher immer etwas zu schnattern. Ich sage dann: Hey, konzentriert euch. Es ist und bleibt ein Präzisionssport.»
Anna Berger: «Aber das Schiessen geht so lange, da kann man doch zwischendurch miteinander reden. Man muss sich doch nicht so isolieren.»
Heinz Berger: «Ich gehe da anders ran. Ich konzentriere mich, ziehe mein Programm durch. Nach der Arbeit kann ich mich beim Schiessen abregen. Aber ich ballere nicht rum, nein. Ich komme zur Ruhe, feuere konzentriert meine 10, 15 Schuss, dann geht es mir besser.»
Das Waffenland Schweiz lebt. 65 000 lizenzierte Schützen und 175 000 Mitglieder zählt der Schweizer Schiesssportverband, beim Eidgenössischen Feldschiessen 2018 traten 127 324 Schützen an.
Michael M. Olsansky, 43, Militärhistoriker: «Die Waffe ist ein Element einer bestimmten, historisch gewachsenen Schweizer Identitätsvorstellung. Das hat seinen Ursprung in der sogenannten Selbstbewaffnung. Der kantonale Milizangehörige musste vor 1815 seine persönliche Waffe in der Regel selbst besorgen. Das war nicht gerade günstig, die Waffe zeigte damit auch den sozialen Rang. Das Tragen der Waffe setzte Ehrbarkeit voraus und war deshalb in der Schweiz lange positiv konnotiert.»
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Doch die Mitgliederzahlen der Schützenvereine sinken, binnen fünfzehn Jahren ist die Zahl der lizenzierten Schützen um ein Viertel geschrumpft. Das Waffenland Schweiz verändert sich.
Ines Kessler, 27, Büchsenmacherin: «In den letzten zwei Jahren haben die Leute bei uns deutlich mehr Waffen gekauft. Vor allem Junge habe ich erlebt, die ein Sturmgewehr kaufen wollten, ehe es vielleicht verboten wird. Ich glaube, in meiner Generation ist die Begeisterung für Waffen viel grösser als bei Leuten zwischen vierzig und fünfzig. Das sind wohl Wellenbewegungen: Was die Eltern doof fanden, finden die Jungen wieder toll.»
Sonja K.*, 20, Schützin und Instagrammerin: «Sobald ich 18 wurde, kaufte ich meine erste Waffe. Ein Sturmgewehr 90 für 3500 Franken. Inzwischen habe ich zwei Karabiner, ein Sturmgewehr 57 und eben das 90er. Eine AK-47 habe ich auch noch. Aber nur eine halbautomatische aus China. China ist günstiger.»
Patrick Haemmerle, 68, Psychiater und Fachmann für Suizidprävention: «Wir verteidigen uns selber, das ist eines der geschichtlich verwurzelten Prinzipien in der Schweiz. Wobei das ‹uns› sich ja zunehmend verschoben hat: weg von ‹uns, der Schweiz› zu ‹Ich verteidige mich, als Einzelperson›. Das erklärt vielleicht auch die zunehmenden Waffenkäufe: Die Menschen haben Angst, der Terror könnte sie auch hierzulande treffen, und sie möchten sich verteidigen können.»
Seit einigen Jahren verzeichnen kantonale Waffenbüros einen Anstieg der gemeldeten Waffen. In Neuenburg und Zürich sind 50 Prozent mehr Feuerwaffen gemeldet als vor zehn Jahren. In Solothurn und im Aargau sind es sogar 150 Prozent mehr. Aber wie viele Waffen es in der Schweiz genau gibt, weiss niemand.
Roger Bobillier, Polizist: «Wie viele Waffen ich besitze, sage ich nicht. Das ist genauso privat wie mein Bankkonto.»
Stefan Metzeler, 56, libertärer Blogger: «Natürlich soll der Staat nicht wissen, wie viele Waffen seine Bürger haben. Das war bisher auch kein Problem.»
Eine Polizeimeldung der Kantonspolizei Aargau: «Die Polizei musste im Februar zu einem im Bezirk Brugg wohnhaften Senior ausrücken. Der psychische Zustand des Betroffenen machte in der Folge eine Einweisung in die psychiatrische Klinik notwendig. Im Zusammenhang mit dieser Massnahme stiess die Polizei im Haus des alleinstehenden Mannes auf zahlreiche Waffen. Es handelte sich dabei um 130 Schusswaffen und eine grössere Anzahl Bajonette und Säbel. Die Polizei stellte diese vollumfänglich sicher. Im Gegensatz zu dieser Waffensammlung waren beim Waffenbüro einzig vier Waffen auf den Betroffenen registriert.»Diese Klassen von Waffen unterscheidet das Schweizer GesetzVolume 90%
Patrick Rölli, 47, Kriminalpolizei Luzern: «Natürlich wäre es besser für unsere Arbeit, wenn wir genau wüssten, wer wie viele Waffen hat. Dann hätten wir keine Überraschungen mehr. Aber das ist eine Illusion.»
Roger Bobillier, Polizist: «Wenn wir wegen häuslicher Gewalt, Ruhestörung oder Sonstigem ausrücken, dann gehen wir immer vom Worst Case aus. Über die in der Datenbank gemeldeten Waffen mache ich mir keine Gedanken – Straftäter melden ihre Waffen nicht an. Wir haben dann die Hand an der Waffe und postieren uns immer links und rechts von der Haustür. Sonst macht es vielleicht bumm, und einer schiesst durch die Tür. Es geht darum, in dieser Situation die Kontrolle zu haben. Aber ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass man vor solchen Momenten keinen Respekt hat.»
Patrick Rölli, Kriminalpolizei Luzern: «Wir wissen, ob jemand einen Waffenschein hat. Die genaue Anzahl Waffen, die er besitzt, kennen wir aber nicht mit Sicherheit. Registriert sind vielleicht drei, den Rest hat er sich illegal besorgt. Das kann man nicht verhindern. Verbrechen können mit legalen oder illegalen Waffen passieren. Das ist auch nicht das Problem. Wir müssen uns auf den Menschen konzentrieren: Wie kommt es überhaupt so weit, dass er eine Waffe einsetzen will?»
Philipp K.*, 39, Schusswaffenopfer: «Einer der Täter schoss wild um sich. Der Lärm war unerträglich. Später erfuhr ich, dass er eine Pumpgun verwendet hatte, eine Art Schrotflinte. Die Schüsse haben mir meinen Oberarm regelrecht weggefranst. Ich verlor einen grossen Teil des Bizeps. Ausserdem hatte ich zwei Projektile auf Gürtelhöhe und Streifschüsse an den Rippen. Ich musste zahlreiche Operationen über mich ergehen lassen. Je nach Wetter spüre ich heute noch starke Schmerzen im Arm.»
Philipp K. arbeitete auf einer illegalen Hanfplantage in Altstätten (SG). Im Februar 2015 überfielen sechs Männer den Raum. K. und ein weiterer Bewacher der Plantage wurden schwer verletzt. Das Gericht verurteilte den Haupttäter später zu zwölf Jahren Haft.
Im Jahr 2016 kamen 228 Menschen durch eine Schusswaffe ums Leben. 212 der Fälle waren Suizide. Ob mit der Schusswaffendichte in einem Land auch die Anzahl der Gewalttaten durch Schusswaffen steigt, ist umstritten. Erwiesen ist: Mit der Anzahl Schusswaffen steigt die Anzahl der Suizide.
Ein Gespräch mit Nils M., 50; sein Vater hat sich erschossen, der Tatort war die Küche.
NZZ: Wussten Sie von den Suizidabsichten Ihres Vaters?
Nils M., Angehöriger eines Suizidopfers: Der Suizid meines Vaters kam für mich völlig unerwartet. Ich war damals 34. Unsere Familienverhältnisse waren konservativ, eine klassische Rollenverteilung, Zärtlichkeiten zwischen meinen Eltern gab es kaum. Mein Vater und ich hatten es gut miteinander, und doch wusste ich zum Zeitpunkt seines Todes nicht, wie es ihm wirklich ging. Ich glaube rückblickend an eine Spontantat.
Schiessen Sie selber?
Ich war Sportschütze, im Militär, und habe einst als Geldtransporteur selber Waffen getragen und andere dafür ausgebildet. Doch von jenem Tag an habe ich kein einziges Mal mehr abgedrückt. Es war wohl eher ein unbewusster Entscheid.
Besitzen Sie noch Waffen?
Meine Militärpistole habe ich behalten sowie meine drei Lieblingswaffen aus Geldtransporter-Zeiten: eine Glock 17, eine Sig Sauer P229 und eine S&W 357 Magnum. Sie sind für mich heute mit Emotionen verbunden. Ich habe sie in meinem Keller vorschriftsgemäss eingeschlossen. Etwa einmal im Jahr nehme ich sie zur Kontrolle hervor. Meine Partnerin weiss davon, gezeigt habe ich sie ihr noch nie. Sollte ich die Waffen irgendwann abgeben, werde ich sie nicht verkaufen. Ich könnte nicht verantworten, wenn sie für Suizid oder einen Mord eingesetzt würden. Ich werde die Waffen der Polizei zur Vernichtung übergeben.
Was bedeutete die Waffe für Ihren Vater?
Mein Vater war Österreicher, er war im Krieg aufgewachsen. Der Freitod mit einer Waffe muss für ihn ehrenhaft gewesen sein, er hätte sich wohl auf keine andere Art das Leben genommen. Heute denke ich: Hätte es keine Waffe im Haushalt gegeben, er hätte sich nicht umgebracht.
Astrid Habenstein, 40, Ärztin in der Krisenintervention: «Laut unserer Statistik griff nur jeder Fünfte, der keine Waffe zur Verfügung hatte, stattdessen zu einer anderen Suizidmethode.»
Habenstein war Mitautorin einer Studie, die untersuchte, wie sich die letzte Schweizer Armeereform von 2003 auf die Suizidzahlen auswirkte. Durch die Halbierung der Armee hatten plötzlich weniger Menschen Zugang zu Waffen. Die Studie zeigte, dass die Suizidzahlen bei Männern im Armee-Alter zurückgingen.
Roger Bobillier, Polizist: «Mein Grossvater hatte auch eine Waffe zu Hause. Trotzdem hat er sich aus dem vierten Stock gestürzt. Sollen wir jetzt alle Hochhäuser absperren? Wenn die Leute sich das Leben nehmen wollen, dann finden sie einen Weg.»
Astrid Habenstein, Ärztin in der Krisenintervention: «Sich vom Balkon zu stürzen, diese Suizidmethode benötigt eine gewisse Vorstellungskraft, und die haben Sie mitunter nicht, wenn Sie in einer Ausnahmesituation sind. Aber bei einer Waffe ist klar, dass sie dazu da ist, jemand anderes oder sich selber zu töten. Ich habe selten erlebt, dass ein Mensch eine Waffe zu Hause hat und sagt: ‹Nein, ich möchte mich anders umbringen.›»
Die neusten Zahlen des Verteidigungsdepartements zeigen: Kaum jemand, der aus dem Militärdienst entlassen wird, möchte die Armeewaffe behalten. 2004 waren es fast 43%, 2018 lediglich noch 13%.
Patrick Haemmerle, 68, Fachmann für Suizidprävention: «Ich bin Jahrgang 1951. Auch ich musste in der Sanitäts-RS Pistolenschiessen lernen. Ein bisschen kannte man das schon von früher, als man ein kleiner Bub war, mit den Schiessbuden an der Chilbi. Aber in der Armee wurde es anders, ich wusste ja, wofür wir das trainieren: um im Bedrohungsfall einen anderen Menschen zu erschiessen. Schiessen hat mir nie Freude gemacht, das war für mich etwa so, wie einen Lkw-Reifen im Schlamm zu wechseln.»
Sven Fischer, 28, Lastwagenchauffeur: «Ich habe die Waffe nach zwei Jahren im Militär abgegeben. Die Zeiten, in denen man sich ein Gewehr in die Stube hängte, sind vorbei. Eine Waffe bleibt eine Waffe, und die braucht eine Privatperson einfach nicht. Ausserdem habe ich eine zehn Monate alte Tochter.»
Michael M. Olsansky, Militärhistoriker: «Tatsächlich gab es im Zweiten Weltkrieg einen militärischen Grund, die Waffe zu Hause aufzubewahren. Die deutsche Wehrmacht pflegte ihre Feldzüge nicht mit offiziellen Kriegserklärungen zu eröffnen, die eine wohlorganisierte Gegenmobilmachung zugelassen hätten. Das Gleiche galt für die strategischen Überfallszenarien durch den Warschauer Pakt im Kalten Krieg. Insofern ergab die Heimaufbewahrung natürlich Sinn.»
Angelo Rutz, 65, Waffensammler und Waffenhändler: «Früher war jeder Schweizer stolz, einen Karabiner in der Stube hängen zu haben. Heute machen alle auf ganz labil. Sie sagen, man sei gestört, wenn man das schön finde.»
2011 wollte die Initiative «Schutz vor Waffengewalt» die Heimaufbewahrung von Armeewaffen verbieten. Sie wurde mit 56 Prozent der Stimmen abgelehnt. Die Schützen hatten sich dagegen gewehrt.
Muriel Züger, 21, Mitglied des Schweizer Gewehr-Nationalteams: «Mein Gewehr ist für mich keine Waffe, sondern ein Sportgerät. Mit einer Waffe hat ein modernes Sportgewehr nicht mehr viel zu tun – auch optisch nicht. Ich schiesse nicht einfach, ich betreibe Leistungssport. Ich will an die Olympischen Spiele 2024. Dafür trainiere ich neben dem Studium an der PH rund 20 Stunden pro Woche.»
Inga Wyss*, 60, wurde von ihrem Ehemann mit einer Waffe bedroht: «Ich habe nichts gegen Schützen, nichts gegen Leute, die Schiessen als Sport betreiben. Aber die Waffen kann man im Zeughaus oder im Vereinsheim aufbewahren. Keiner sollte eine Waffe zu Hause haben.»
Für Sonja K., eine 20-jährige Frau, die eigentlich anders heisst, ist die Waffe ein Sportgerät. Im Herbst schiesst sie jedes Wochenende an einem Wettkampf. Aber die Waffe ist für sie mehr. Ein Bild von Sonjas Instagram-Account zeigt sie im weissen Trägershirt, es verdeckt ihren Bauchnabel nur knapp. In der Hand hat sie eine Kalaschnikow. 700 Likes auf Instagram. Gaebu.exe schreibt: «Sicher ganz schön unpräzis, aber geil.» Sonjas Antwort: «Sehr wahrschiendli. Chlöpfe duets glich.»
Sonja K.*, 20, Schützin und Instagrammerin: «Bilder mit Waffen finde ich einfach megacool. Und von Uniformen. Ich habe immer schon viele Bilder von mir selber gemacht. Nahe Freunde fanden das irritierend. Aber die verstanden auch nicht, wieso ich mit dem Schiessen angefangen hatte. Ich habe mehr Freunde, die das nicht verstehen, als andere. Viele Männer und auch Frauen schreiben mir als Reaktion auf meine Bilder auf Instagram: ‹Wollen wir mal zusammen schiessen gehen?› oder ‹Was ist deine Lieblingswaffe?›»
Sonja ist mit ihren 5200 Followern auf Instagram so etwas wie eine Waffen-Influencerin. In den Social Media präsentiert sich das neue Waffenland Schweiz.
Der Youtube-Kanal des Users SwissGunGuy: Ein junger Mann, 31, mit verstrubbeltem Haar sitzt am Stubentisch. Auf den Unterarm hat er sich ein Sturmgewehr tätowieren lassen, im Hintergrund steht ein Ohrensessel. In der Hand hält er ein Sturmgewehr HK416, die Waffe der Spezialeinheiten des US-Militärs. Der SwissGunGuy heisst eigentlich Andrea Frauchiger und arbeitet als Consultant. Im Video erzählt er, wie er die Waffe erworben hat und wie lange er auf einzelne Teile warten musste. Es klingt, als spräche er von einem Lego-Bausatz.
Andrea Frauchiger, 31, Waffen-Youtuber: «Mit 20 habe ich mir mein erstes Sturmgewehr gekauft. Ich habe heute etwa 14. Die HK416 ist mein Baby. Ein Waffenhändler hat sie mir zusammengebaut. Er musste die einzelnen Teile im Ausland bestellen. Das kostete zwischen 4000 und 5000 Franken und dauerte mehrere Monate. Ich kenne Leute, die haben mehrere Jahre auf ihre komplette Waffe gewartet.»
Frauchiger postet ebenfalls auf Instagram Bilder seiner Waffen, das tun viele. Und manche teilen auch noch andere Fotos: wie sie mit dem Gewehr hinter Deckungen kauern, wie sie von dort hervorschiessen. Es erinnert an Einsätze von Sondereinheiten oder Actionfilme. Oft tragen die Personen auf den Fotos Tarnkleider. Tactical Shooting nennt sich diese Art zu schiessen.
Renato Demarmels, 28, Waffenhändler und Tactical Shooter: «Ich verstehe, wenn man gegenüber dem Tactical Shooting skeptisch ist. Es sieht aus wie Kriegspielen. Aber so fühlt es sich nicht an. Mehr wie ein Wettkampf gegen sich selbst. Es schiesst ja niemand zurück. Ich schiesse immer mit denselben Leuten: Juristen, Mechanikern, einer hat ein paar Immobilien. Wir machen über Doodle einen Termin, meistens an einem Samstag oder einem Sonntag. Für viele ist es ein Lifestyle, vermutlich hat jeder, der taktisch schiesst, auch Freude an einem Militärhelikopter. Aber ich trage höchstens einen Camouflage-Hut und würde nie mit einer Militärhose im öffentlichen Raum herumlaufen. Ich will nicht aussehen wie ein Rambo. Ich mache mir auch keine Illusionen, dass ich etwas kann, was Polizisten können. Das hat keinen Nutzen in der echten Welt.»
Franz W.*, 55, Betreiber eines Schiesskellers: «Wer Tarnkleider trägt, kommt bei mir nicht in den Keller. Die Schlimmsten sind jene in Kampfstiefeln, die den Aufstand üben wollen. Oder solche, die Bilder ihrer Vorgesetzten an den Kugelfang hängen. Das gibt es. Aber das hat nichts mit sportlichem Schiessen zu tun. Sportlich schiessen heisst mit Präzision und Geschwindigkeit schiessen.»
Andrea Frauchiger, Waffen-Youtuber: «Es gibt Trends in der Szene der Tactical Shooter. Jedes Jahr kommt ein neues Tarnmuster heraus, und es gibt Leute, die immer das neueste kaufen. Oder Pistolenhalfter und Tragriemen. Diese Leute erkennst du sofort, das sind sozusagen die mit den Gucci-Produkten. Die müssen das auch immer auf Instagram zeigen.»
Auf vielen dieser Instagram-Bilder sind die Gesichter verpixelt.
Renato Demarmels, Waffenhändler und Tactical Shooter: «Wir sind vorsichtig. Wir wollen nicht, dass ein Foto auf Social Media missbraucht oder missverstanden wird. Ich kenne Leute, die auf Facebook keine Waffensachen liken, weil sie Angst haben, dass der Chef es sieht. Man spürt die Repression. Man fürchtet, dass man sich dann erklären muss.»
In ihrem Manifest schreibt die Swiss NRA: «Die Swiss NRA bildet eine Gegenöffentlichkeit!» Die Website ist nicht mehr online, aber es gibt noch eine Facebook-Seite. Fast 2000 Menschen gefällt das. Roberto Piccinno spricht für die Swiss NRA, er sagt, es sei ein loser Bund von Menschen, die sich Sorgen machten.
Roberto Piccinno, 42, Swiss NRA: «Ich wurde auch schon angegriffen in Basel. Ich hatte ein Messer am Hals. Meine Waffe hatte ich nicht dabei. Aber ich weiss auch nicht, ob ich sie tatsächlich eingesetzt hätte. Bis 1999 führte ich legal dank einem sogenannten bedürfnisfreien Waffentragschein jeden Tag eine geladene Pistole mit. Als mir das verboten wurde, war ich perplex, ich hatte nichts verschuldet und mich auch nicht falsch verhalten. Der Staat nahm mir die Möglichkeit, mich selber und meine Liebsten zu schützen.»
Seit 1999 ist Privatpersonen in der Schweiz das Waffentragen im öffentlichen Raum nur noch in wenigen Ausnahmefällen gestattet.
Stefan Metzeler, 56, libertärer Blogger: «Ich wurde noch nie bedroht, aber ich weiss, dass die Leute sich nicht mehr so sicher fühlen wie früher. Ich behaupte: Früher, vor 1999, war die Schweiz sicherer.»
Roberto Piccinno, Swiss NRA: «Nicht jeder soll eine Waffe besitzen dürfen. Aber unbescholtene Waffenbesitzer, die erfolgreich Selbstverteidigungs-Schiesskurse absolviert haben, sollen die Waffe auch in der Öffentlichkeit tragen dürfen. Ohne dem Staat ein Bedürfnis fürs Waffentragen nachweisen zu müssen.»
Stefan Metzeler, libertärer Blogger: «Ich trug gelegentlich eine Beretta, offen in einem Holster, um meine Mitbürger daran zu erinnern, dass das beispielsweise im Kanton Waadt legal war.»
Roberto Piccinno, Swiss NRA: «More guns mean more safety. Das ist so.»
Patrick Rölli, Kriminalpolizei Luzern: «Mehr Waffen führen sicher nicht zu mehr Sicherheit. Nie.»
Patrick Haemmerle, Psychiater und Fachmann für Suizidprävention: «Die Idee, dass jeder Bürger auch ein Soldat ist, entsprach einer historischen Realität, ist mittlerweile aber nur mehr ein mächtiger Mythos. Das gehörte halt lange zum helvetischen Männlichkeitsbild.»
Wie viele der Schützen Frauen sind, weiss man nicht. Bei den Jägern aber gibt es Zahlen: 701 Jägerinnen stehen knapp 30 000 Jägern gegenüber.
Angelo Rutz, Waffensammler: «Leute, die Waffen sammeln, sind zu 99 Prozent gestandene Männer. Stehen mit beiden Beinen im Leben, haben ein Geschäft. Zu mir ins Geschäft kommen Anwälte, Ärzte, Richter.»
Ines Kessler, Büchsenmacherin: «Frauen zeigen ihre Begeisterung für Waffen weniger öffentlich. Nicht zuletzt wegen ihres Berufs: Wenn eine in einem Pflegeberuf oder als Lehrerin arbeitet, hat sie Angst, dass es nicht gut ankommt, wenn sie vom Schiessen erzählt.»
Sonja, Schützin und Instagrammerin: «Meine Lieblingswaffe? Hauptsache, es ‹chlöpft› und es hat Rückstoss. Das muss sein.»
Sonja erinnert sich gut an ihren ersten Schuss. Wie sie sich hinlegte, den Kolben bis zum Anschlag an die Schulter klemmte. Dann, wie der Rückstoss schmerzte. Die Schulter war ganz blau. Jetzt muss sie darüber lachen. Auf Instagram posiert sie mit einem schwarzen Sturmgewehr. Das grüne, das man in der Armee bekommt, gefällt ihr nicht.
Angelo Rutz, Waffensammler: «Es gibt schöne und weniger schöne Waffen. Eine Kalaschnikow ist nichts Schönes. Davon gibt es Abermillionen. Ausserdem ist sie eine Kopie des Sturmgewehrs 44. Aber eine deutsche Pistole aus den 1930er Jahren ist was Schönes.»
Renato Demarmels, Waffenhändler und Tactical Shooter: «Heute werden Waffen schnittig designt, damit sie allen gefallen. Meine Lieblingswaffe ist ein Oldtimer. Wirklich schön finde ich eine Browning M2, Bodenmodell mit schwerem Lauf auf dem Dreibein. Wenn sie angewinkelt Richtung Horizont zeigt, sieht das sehr geil aus.»
Drazen R.*, 58, läuft in sein Schlafzimmer zu einem schwarzen, länglichen Safe, der etwa so hoch ist wie er selbst. R. holt seine Lieblingswaffe heraus. Eine Schweizer Hämmerli, Kleinkaliber, von der er schwärmt. Drazen R. ist Sportschütze und Kroate. Bis 2014 galt für Kroaten wie für Bürger anderer ehemaliger Konfliktregionen in der Schweiz ein Waffenverbot. Weiterhin keine Waffen besitzen dürfen Serben, Albaner, Sri Lanker, Kosovaren, Mazedonier, Türken, Algerier und Menschen aus Bosnien-Herzegowina.
Drazen R.*, 58, Sportschütze: «Wir Leute vom Balkan sind schon emotionaler. Als Kroatien aus dem früheren Jugoslawien entstand, habe ich für mich, meine Frau und meine drei Kinder kroatische Pässe in Bern beantragt und unsere jugoslawischen Pässe eingeschickt. Zurückgekommen ist aber nur ein kroatischer Pass für mich. Wir haben viel telefoniert, sind extra nach Zagreb gereist – alles vergeblich. Da packte mich die Wut. Ich habe das kroatische Konsulat in Bern angerufen und gesagt: Wenn ihr uns nicht helft, dann komme ich vorbei und knall euch ab. Und ich meinte das ernst. Ich bin auf diesen Wutausbruch nicht stolz, aber ich fühlte mich derart machtlos, und die Waffe schien mir die einzige Weise, Respekt zu bekommen. Später habe ich diese Pistole in einem Fluss versenkt.»
Auszug aus der Broschüre «Schweizerisches Waffenrecht» der Bundespolizei: Allgemeine Voraussetzungen für den Erwerb von Waffen: Die Person muss mindestens 18 Jahre alt sein; nicht unter umfassender Beistandschaft stehen oder durch eine vorsorgebeauftragte Person vertreten werden; sie darf nicht zur Annahme Anlass geben, dass sie sich selbst oder Dritte mit der Waffe gefährdet; sie darf nicht wegen gewalttätiger oder gemeingefährlicher Handlung oder wegen wiederholt begangener Verbrechen oder Vergehen im Strafregister eingetragen sein.
Kenan Alkan-Mewes, 50, Fachpsychologe für Rechtspsychologie: «Die wenigsten Leute, die ungeeignet sind, Waffen zu besitzen, sind psychisch gestört – das ist so wie bei den Gefängnisinsassen: Die allermeisten sind es ebenfalls nicht. Ich bin auf waffenrechtliche Gutachten spezialisiert. Haben die kantonalen Waffenbüros Zweifel, ob jemand mit Waffen umgehen kann, werde ich kontaktiert. Ein solches Gutachten zu erstellen, ist ein aufwendiger wissenschaftlicher Prozess, den man erlernen und akribisch bearbeiten muss. Aber ich habe auch schon Gutachten von sogenannten Gutachtern auf vier Zeilen gesehen und weitere, die den nötigen Standards keineswegs entsprachen. Auf der Basis der Gutachten können Waffenbüros entscheiden, ob jemand zum Beispiel seine Waffe behalten darf. Waffen sind gefährlich. Ehe ich mein (positives) Gutachten abgebe, schaue ich es mir deshalb noch einmal genau an und stelle mir die Frage: Was ist, wenn diese Person in zwei Monaten wild um sich schiesst? Hätte ich das erkennen können, habe ich alles berücksichtigt?»
Waffen werden in der Schweiz nicht nur für Tötungsdelikte, Raubüberfälle und Suizide missbraucht. Auch Geschichten wie jene von Maria C.* sind Teil des Waffenlandes Schweiz.
Maria C., 48, wurde mit einer Waffe bedroht: «Mein Ex-Partner, der Vater meiner jüngsten Tochter, war Polizist und auf dem Papier der perfekte Mann. Als ich herausfand, dass er bisexuell ist, wollte ich mich trennen. Aber er hatte Angst, dass sein Geheimnis nun bekannt würde. Er hat mich eingesperrt, mich geschlagen und mir damit gedroht, mir die Kinder wegzunehmen. Keiner werde mir glauben, schliesslich sei er Polizist. Sollte ich fliehen, werde er mir eine Kugel durch den Kopf jagen. Eines Abends ist er ausgetickt. Er hat mich verprügelt, mich in den Keller geschleppt. Dann hat er mich zu Boden gestossen, aus einer Schublade seine private Pistole gezogen und sie mir an den Kopf hinter das rechte Ohr gehalten. Ich hab auf den Boden gestarrt und gedacht: Jetzt ist es zu Ende. Er hat immer weitergeschrien, dann aber die Waffe sich selbst an die Schläfe gehalten. Vielleicht sei es besser, wenn er sich selbst erschiesse, brüllte er. Es dauerte noch ein ganzes Jahr, bis ich flüchtete. Ich hatte einfach immer Angst vor dieser Waffe zu Hause.»
Man könne eine Waffe schon als Sportgerät bezeichnen, aber es bleibe eine Waffe, sagt ein Schütze. Später zieht er seine Aussage zurück.
Anna Berger, Schützin: «Die Waffe ist wie ein Hund – es kommt auf den Besitzer und den Umgang an.»
Drazen R., Sportschütze: «Schiessen hat etwas von Meditation. Ich schaffe es natürlich nicht, 30 Minuten durchgängig an nichts zu denken, ich bin ja kein Yogi. Aber drei Sekunden während des Abdrückens reichen.»
Ines Kessler, Büchsenmacherin: «Mit Waffen ist es wie mit den Motorrädern: Wer keinen Bezug dazu hat, der findet sie einfach laut und gefährlich.»
Maria C., Opfer von Waffengewalt: «Ich würde verbieten, dass überhaupt irgendjemand eine Waffe zu Hause hat. Damit hat der Partner einfach eine andere Macht über dich. Wenn es ‹nur› Fäuste sind, kann man sich vielleicht wehren. Aber eine Pistole, ein Gewehr, das lässt dich in Ohnmacht zurück.»
Die Schweiz ist ein Waffenland. Viele Menschen hierzulande haben eine Beziehung zu Waffen, eine gute oder eine schlechte. Oder etwas dazwischen.
* Viele Personen wollen nicht mit der NZZ über Waffen sprechen. 28 waren bereit, für diese Geschichte Auskunft zu geben – einige nur unter der Bedingung, dass sie anonym bleiben. Alle Namen sind der Redaktion bekannt.
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